Selbstbegegnung und Gemeinschaftsbildung
Literatur öffnet durch ihre Geschichten Räume, in die ich als Leser eintreten kann, die meine an die Wirklichkeit gebundene Sicht erweitern. Literatur trägt zur Identitätsfindung bei, stiftet Empathie und Toleranz und lässt mich die Welt aus anderer Perspektive lesen. Wirklichkeit wird neu erschaffen und dadurch erst in ihrer Vielfältigkeit sichtbar. Eigene Handlungen können durch das Lesen des Fremden überdacht und hinterfragt werden.
Auf geisteswissenschaftlicher Ebene stellt sich die Frage nach dem Verständnis des Wortes als Logosmysterium. In diesem Zusammenhang ist entscheidend, was Rudolf Steiner in seinem Michaelbrief vom 25. Oktober 1924 andeutet. Dort ist sehr knapp von einer „Christus-Michael-Sprache“ die Rede, die den Menschen an den Kosmos neu anbinden wird. Wie sieht die Ausbildung solch einer „Christus-Michael-Sprache“ konkret aus, und ist sie in unserer abendländischen Literatur bereits zu finden?
Auf der literaturwissenschaftlichen Ebene wird die Frage nach der Humanisierung des Menschen durch Literatur auf der ethischen Ebene verhandelt. Hierfür sind die Ausführungen der französischen Philosophen Ricoeur, Foucault und Levinas zur Sprache grundlegend. Denn die Begegnung mit mir selbst, dem Anderen und Fremden ist vor allem ein sprachlicher Akt und wird aus der Sprache heraus bestimmt. Dabei kommt es nicht nur auf das an, was dargestellt wird – in der Literatur, die Geschichten, die erzählt werden –, sondern vor allem darauf, wie diese erzählt sind. Wolfram von Eschenbach, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Hölderlin, Christian Morgenstern, Franz Kafka, Uwe Johnson, Nelly Sachs, Paul Celan, Peter Handke, Patrik Roth, Marica Bodrožić haben Texte verfasst, die auf ganz unterschiedliche Weise eine Menschen bildende und seinen Horizont erweiternde Wirkung entfalten. Das wird mit literaturwissenschaftlichen Analyseverfahren und Kriterien, die u.a. aus Rudolf Steiners Äußerungen zur Christus-Michael-Sprache gewonnen sind, erarbeitet.
Sichtbar wird dann werden, welche entscheidende Aufgabe Literatur und Lesen in einer digitalisierten Welt zukommt, indem sie Wirkliches und Mögliches in ein künstlerisches Spiel bringt und dem Menschen neue Wirklichkeitsebenen eröffnet.